Wie unsere Empörung kann auch unser Gedächtnis sehr selektiv sein und dazu führen, dass wir filtern, verdrängen oder uns nur an das Positive erinnern. Dies geschieht weitgehend von selbst. Das Gedächtnis ist ein wichtiger Baustein unserer Persönlichkeit und um den Überblick, auch über unsere Erinnerungen, zu behalten, müssen wir vereinfachen. Es ist nicht undenkbar, dass ich dabei – aus Selbstschutz und um nicht in Schuldkomplexen zu versinken – vor allem meine guten Seiten möglichst fest und fettgedruckt abspeichere und so eine Realität “neu erfinde”, die es nie gab.

 

In biblischen Zeiten saßen die Ältesten am Tor. Dort haben sie beraten und geurteilt. Wahre Weisheit war bei denen zu finden, die sich einer großen Lebenserfahrung rühmen konnten.

 

Wir hingegen leben in einer Gesellschaft, die sich ihrer Geschichte immer weniger bewusst ist und dies nicht als Problem ansieht. Schließlich liegen Glück und Weisheit in der Zukunft, und die Lösung vieler Probleme soll in der neuen Technologie liegen. Jede App muss alle zwei Monate aktualisiert werden. Vieles in diesem modernen Leben weist auf die Zukunft hin.

 

Als Schuljunge hörte ich einen Spruch, der mir immer im Gedächtnis geblieben ist: Die Geschichte lehrt, dass der Mensch nichts lernt.

 

Die Kirche ist dazu berufen, wie die Propheten der Bibel die gesellschaftlichen Entwicklungen aus der gelebten Geschichte heraus zu beobachten und gegenüber wiederkehrenden verdächtigen Mustern, die in der Vergangenheit nichts als Unheil gebracht haben, äußerst kritisch zu sein.

 

Wer glaubt, erinnert sich an die großen Taten Gottes, nicht um in der Vergangenheit zu verharren, sondern um das gegenwärtige Leben zu einer Antwort innerhalb des Rahmens des Herrn zu machen. Oder, wie es in den Worten Jesu, mit denen wir das Heilige Abendmahl feiern, so schön zum Ausdruck kommt: “Tue dies in Erinnerung an mich”.

.

Pfarrer Steven H. Fuite,

Präsident des Synodalrats der Vereinigten Protestantischen Kirche in Belgien