Wir sind Protestanten
Protestanten sind Christen. Damit ist eigentlich alles gesagt, außer dass die christliche Familie ziemlich groß ist und dass es große Unterschiede zwischen den einzelnen „Familienzweigen“ gibt. Das ist jedoch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Kirche bereits seit mehr als 2000 Jahren existiert ist und der geistliche „Stammvater“ (Jesus von Nazareth, genannt Jesus Christus) seine Aufgabe vor allem darin sah, ein Vorbild zu sein und aufzuzeigen, wie Menschen eigentlich leben sollten. Als seine geistlichen Nachkommen begannen, sich über die ganze Welt zu verstreuen, versuchten sie nach bestem Gewissen, Jesus nachzufolgen. Aber die einzelnen Zweige haben sich im Lauf der Jahrhunderte auseinanderentwickelt. Und mehr noch: Sie haben sich nur allzu oft über das Erbe gestritten, in diesem Fall vor allem über die Frage, was es eigentlich bedeutete, im Sinne von Jesus zu leben. Kirchen sind und bleiben nun einmal Menschenwerk.
Im Folgenden zunächst ein Einblick in die Geschichte; es folgt eine Erläuterung der protestantischem Glaubensinhalte.
Protestanten und Katholiken
Im 16. Jahrhundert spitzte sich der Streit zu und der Familienzusammenhalt wurde auf eine schwere Probe gestellt. Es begann damit, dass ein frommer Mönch – Martin Luther (1483-1546) – sich gegen den katholischen Ablass stellte: Mit Geld konnte man sich von seinen Sünden freikaufen. Luther war der Meinung, dass dieser Usus nicht mit der Lehre von Jesus Christus vereinbar war. In der darauf folgenden Debatte kristallisierte sich ein fundamentales Problem heraus, das in der Frage kulminierte, wer eigentlich das Sagen habe in der Kirche. Für Luther war die Bibel die einzige Autorität, womit er sich unverhohlen gegen den Papst und die Bischöfe wandte. Die Folge war, dass Luther 1521 exkommuniziert wurde. Dies wiederum provozierte so viel Protest, dass die Kirche ein Schisma erlebte. Ein Teil der (vor allem) deutschen Christen gründete eine eigene Kirche, die sich „evangelisch“ oder „protestantisch“ nannte. Im französischsprachigen Europa folgten später die „reformierten“ Christen (Eglise Réformée). Diese gehen auf den Reformator Calvin (1509-1564) zurück, dessen Reformen tiefer in die bestehende Kirche eingriffen als die Reformen Luthers.
Protestanten in Belgien
Im Raum des heutigen Belgien, der im 16. Jahrhundert unter spanisch-habsburgischer Herrschaft stand (Belgien bestand als Staat noch nicht) fiel die Lehre Luthers auf besonders fruchtbaren Boden. Aber die katholische Kirchenleitung und der spanische König waren nicht bereit, auch nur einen Zentimeter zu weichen. Das Ergebnis war ein verheerender Glaubenskrieg, der mit der Ausweisung aller Protestanten aus den „südlichen Niederlanden“ endete. Das ganze 17. und 18. Jahrhundert lang konnten sich die wenigen im Raum des heutigen Belgien übrig gebliebenen Protestanten nur heimlich an mehr oder weniger verbotenen Orten treffen. Erst nachdem Napoleon 1815 in Waterloo besiegt war, konnten sie ihren Glauben wieder ohne Gefahr für Leib und Leben ausüben. Die Religionsfreiheit wurde 1830 sogar in die Verfassung des gerade unabhängig gewordenen Belgien aufgenommen. Langsam aber sicher begannen die Protestanten, sich zu organisieren. Es kam zur Gründung der „Protestantischen Kirche in Belgien“, die heute rund 200 lokale Gemeinden umfasst.
Die Vereinigte Protestantische Kirche in Belgien (VPKB)
Die VPKB ist eine Kirche des calvinistischen oder „reformierten” Typus. Die reformierte Kirche entstand in Ländern, in denen die Kirchen nicht staatlich subventioniert wurden oder sogar den Staat gegen sich hatten. Man musste sich selber organisieren, wenn man überleben wollte, was ebenso progressiv wie revolutionär war. Und noch heute sind die lokalen protestantischen Gemeinden relativ autonom.
Bereits als der Begriff „Demokratie“ noch weitgehend unbekannt war, wählten die Protestanten selber ihre religiösen Führer. Diese wurden „Älteste“ genannt. Gemeinsam mit dem Prediger oder Pfarrer (den „Dominees“) sind die Ältesten verantwortlich für das geistliche Wohl ihrer Gemeindeglieder. Das Kollegium der Ältesten und des Pfarrers wird „Kirchenrat“ (kerkeraad) genannt (was in Flandern nicht mit dem kerkraad verwechselt werden darf, der offiziellen Bezeichnung des Leitungsgremiums einer römisch-katholischen Pfarrei oder „Kirchenfabrik“). Über ein gestaffeltes System treffen sich Delegierte der Kirchenräte in regionalen oder landesweiten Gremien, den Synoden. Die Synoden beschäftigen sich mit Angelegenheiten, die die lokalen Belange übersteigen und die auch die Ausbildung der Pfarrer überwachen.
Und an was glauben wir eigentlich?
Die meisten Protestanten erleben ihren Glauben relativ individuell und fühlen sich in einer lokalen Glaubensgemeinschaft zu Hause, in der es wenige Formalitäten gibt. Zum Pfarramt werden sowohl Männer als auch Frauen zugelassen und die Pfarrer/innen können heiraten. Bereits im 16. Jahrhundert hat Luther das Zölibat abgeschafft, das von der Bibel nicht gefordert wird. Und heute entspricht das Zölibat schon gar nicht mehr der Geschlechtergleichstellung… In den Gottesdiensten und im Gemeindeleben spielt die Bibel eine entscheidende Rolle. Es gibt auch nur zwei Sakramente, die Taufe und das Abendmahl. Da Protestanten die Bibel in den Mittelpunkt ihres Glaubens stellen, haben sie sich auch von den Heiligen und deren Verehrung, von der Marienverehrung sowie von anderen frommen Gebräuchen verabschiedet. Im Vordergrund stehen die Person von Jesus, sein Leben und seine Taten. Durch die intensive Bibellektüre und das gemeinsame Nachdenken über die Bibel und Diskutieren des Alten und des Neuen Testaments sind Protestanten im Allgemeinen recht mündige und kritische Menschen. Die meisten können auch gut erklären, was sie glauben und wofür sie sich einsetzen.
Und sie nehmen nicht einfach immer alles an, was ihnen vorgesetzt wird. Sie denken lieber zweimal nach und sind offen für Veränderungen.
Die Bibel
Das führt dazu, dass die protestantische Kirche ständig in Bewegung ist. Wir wollen eine Kirche für die Menschen der Gegenwart sein. Bei allen Unterschieden fällt jedoch auf, dass alle Protestanten ihre Ansichten und Überzeugungen auf die Bibel zurückführen. Eine alte Redewendung fasst dies gut zusammen: „Ausgerichtet auf die Zeit, verankert im Felsen.“ Der Felsen – die Bibel – war für Luther die einzige Quelle jeglicher Autorität.
Dies erklärt aber auch, warum es im Protestantismus so viele verschiedene Richtungen gibt. Denn im Protestantismus darf niemand seine Bibelinterpretation einem anderen Menschen aufdrängen. Denn dann wäre er, um die Ecke herum, wieder eine Art „Papst“. Protestanten können eigentlich nur versuchen, andere mit ihren Argumenten davon zu überzeugen, dass etwas gut oder nicht gut ist oder dass es auch anders oder besser gehen könnte. So bleiben sie ständig im Gespräch. Das Ergebnis ist eine kritische Einstellung zur Gesellschaft, zum Leben und zur Welt (was wir als positiv empfinden); der Nachteil kann jedoch ein Wildwuchs an Meinungen und Überzeugungen sein. Im Niederländischen gibt es das Sprichwort Elke ketter heeft zijn letter, was sinngemäß bedeutet, dass jeder Ketzer die Bibel nach eigenem Gusto auslegt. Da wir von der VPKB uns dessen nur allzu bewusst ist, legen wir größten Wert auf die gründliche Ausbildung unserer Pfarrer. Alle müssen ein abgeschlossenes Theologiestudium haben und die Bibel in ihren ursprünglichen Sprachen lesen können. Und vor allem: Wir üben uns ständig im Akzeptieren der Tatsache, dass der „Andere“ nun einmal anders ist und anders denken kann als wir selber.